Ethische Dilemmata im Coaching – Der schmale Grat: Nähe und Distanz im Coaching
Coaching ist ein faszinierender Beruf. Es erfordert nicht nur Fachwissen und methodisches Können, sondern auch ein feines Gespür für die Balance zwischen Nähe und Distanz. Doch wie bleibt ein Coach empathisch, ohne sich zu stark einzubringen? Und wie gelingt es, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, ohne die professionelle Haltung zu verlieren?
In diesem Blog zeige ich anhand von Praxisbeispielen, wie Coaches diese Herausforderung meistern – und welche Stolpersteine es gibt.
Praxisbeispiel 1: Der Konfliktlöser, der Partei ergreift
Frau L., eine Führungskraft, sucht Unterstützung bei der Lösung eines Konflikts in ihrem Team. Zwei Mitarbeitende stehen sich unversöhnlich gegenüber, und Frau L. macht deutlich, auf wessen Seite sie steht. Der Coach hört aufmerksam zu, zeigt Verständnis – und bestätigt unbewusst Frau L.s Sichtweise. Dadurch wird das Coaching einseitig: Der Konflikt bleibt unausgewogen beleuchtet, und Frau L.s Verantwortung als Führungskraft wird nicht hinterfragt.
Was lief schief? Der Coach hat versäumt, Frau L. zu einer umfassenderen Perspektive einzuladen. Wenn ein Coach Partei ergreift, behindert dies den Reflexionsprozess des Coachees.
Wie bleibt der Coach in seiner Rolle? Indem er Frau L.s Verantwortung als Führungskraft in den Fokus rückt und gezielt Fragen stellt wie:
- „Wie könnten Ihre Mitarbeitenden Ihre Rolle in diesem Konflikt wahrnehmen?“
- „Was würde ein neutraler Beobachter zu diesem Konflikt sagen?“
- „Wie könnten Sie die Verantwortung an Ihre Mitarbeitenden zurückgeben?“
Diese Fragen fördern eine systemische Perspektive und helfen Frau L., ihre Rolle als Führungskraft zu reflektieren.
Praxisbeispiel 2: Der Coach als enger Vertrauter
Herr M., ein Executive, sucht Unterstützung, weil er sich überlastet fühlt. Er zeigt Offenheit und Verletzlichkeit – ein seltenes Verhalten auf seiner Ebene. Im Laufe der Sitzungen beginnt er jedoch, den Coach als Vertrauten zu sehen und nach persönlichen Ratschlägen zu fragen. Der Coach merkt, dass die Rolle zu kippen droht: vom Coach zum Berater oder sogar Freund.
Wie bleibt der Coach in seiner Rolle? Indem er die Selbstverantwortung von Herrn M. stärkt und systemische Fragen stellt:
- „Wie würde eine unbeteiligte Person Ihre Situation wahrnehmen?“
- „Welche kleinen Veränderungen könnten Ihre Belastung reduzieren?“
- „Welche Ressourcen haben Ihnen in der Vergangenheit geholfen?“
- „Wie könnten Sie Ihr Team stärker einbinden, um Entlastung zu schaffen?“
Diese Fragen lenken den Fokus zurück auf die Eigenverantwortung und fördern die Selbstwirksamkeit.
Die Bedeutung von emotionaler Intelligenz und Abgrenzung
Die Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren, erfordert emotionale Intelligenz und Selbstreflexion:
- Empathie zeigen, ohne sich zu verlieren: Es ist essenziell, sich in die Perspektive des Coachees einzufühlen, ohne dessen Gefühle zu übernehmen. Emotionale Intelligenz hilft, das Gegenüber zu verstehen und gleichzeitig handlungsfähig zu bleiben.
- Professionelle Abgrenzung wahren: Coaching unterstützt Coachees dabei, eigene Lösungen zu entwickeln. Sobald der Coach Ratschläge gibt oder sich zu sehr einbringt, wird die professionelle Rolle untergraben.
Tipps für die Balance zwischen Nähe und Distanz
- Klare Rollenklärung zu Beginn: Was erwartet der Coachee vom Coaching? Welche Rolle nimmt der Coach ein?
- Fragen statt Ratschläge: Fragen wie „Welche Annahmen leiten Ihr Verhalten?“ fördern Reflexion und Selbstverantwortung.
- Achtsamkeit gegenüber eigenen Emotionen: Regelmäßige Selbstreflexion und Supervision stärken die professionelle Haltung.
- Abgrenzung bewusst gestalten: Besonders bei schwierigen Themen hilft die innere Haltung: „Ich begleite den Prozess, die Verantwortung liegt beim Coachee.“
Warum die Balance so wichtig ist
Coaching ist ein Dialog auf Augenhöhe – kein Beratungsmodell, kein Therapieersatz und keine Freundschaft. Die Aufgabe des Coaches ist es, Coachees dabei zu unterstützen, ihre eigenen Antworten zu finden. Die Kunst liegt darin, sich empathisch einzulassen, ohne die professionelle Haltung zu verlieren.
Was macht ein Coach eigentlich? Ein Coach stellt Fragen, gibt Raum für Reflexion und stärkt die Eigenverantwortung des Coachees. Er ist weder Ratgeber noch Entscheider, sondern ein Begleiter, der Klarheit schafft und Prozesse anstößt.
Möchten Sie lernen, Nähe und Distanz souverän zu balancieren? In meiner DBVC-zertifizierten Coaching-Weiterbildung erfahren Sie, wie Sie anspruchsvolle Fragen stellen und komplexe Coaching-Dynamiken professionell meistern. Denn Coaching bedeutet nicht nur Begleitung – es bedeutet Verantwortung.
Quellen und Literaturempfehlungen:
- Tschacher, W. & Haken, H. (2019). Theoretische Grundlagen für das Coaching: Systemtheorie und Selbstorganisation.
- Grawe, K. (2007). Neuropsychotherapie: Wie das Gehirn die Psyche steuert.
- Bluckert, P. (2015). Psychological Dimensions of Executive Coaching. Open University Press.
- Bachkirova, T. (2016). Developmental Coaching: Working with the Self.
Rauen, C. (2019). Coaching-Tools III: Die besten Coaching-Methoden in der Praxis. Junfermann Verlag.